Der Laplacesche Dämon
Auch in der Physik hat es Versuche gegeben, gleich einem Wahrsager, sämtliche denkbaren Ereignisse exakt vorherzusagen. Aber eben nicht auf Grundlage von Visionen und nebelhaften Eingebungen, oder gar des Deutens von Karten- oder Sternenbildern, sondern aufgrund berechenbarer Fakten. Die Theorie ist: wenn man sämtliche Daten über das gesamte Geschehen im Kosmos besitzt, kann man folgerichtig alles voraussagen, was geschehen wird. Diese grundsätzliche Fähigkeit hat ein Mathematiker namens Laplace zum ersten Mal definiert und eine hypothetische Person definiert, deren Wissen dann der Allmacht Gottes gleichkäme: den Laplaceschen Dämon.
Hierzu zunächst die wissenschaftliche Definition: Laplacescher Dämon bezeichnet die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Auffassung, der gemäß es möglich sei, unter der Kenntnis sämtlicher Naturgesetze und aller Initialbedingungen jeden vergangenen und jeden zukünftigen Zustand zu berechnen.
Der metaphysische Unterbau dieser Haltung ist der Gesetzesdeterminismus: für Laplace ist die Welt durch Anfangsbedingungen und Bewegungsgesetze vollständig determiniert, so dass die Aufgabe der Naturphilosophie, die in der Himmelsmechanik ihr Vorbild besitzt, ausschließlich in der Integration von Differentialgleichungen besteht. Das wäre die Aufgabe des Dämons, den Laplace im Vorwort des Essai philosophique sur les porbabilités von 1814 entwirft; er spricht dort jedoch weniger effektheischend von einer Intelligenz (une intelligence). Dass das ein nicht zu erreichendes wissenschaftliches Ziel darstellt, war Laplace selbst bewusst.
Ein theoretisches Konstrukt
Soweit die Phantasien der klassischen Physik. Da man zu der Zeit Newtons davon überzeugt war, sämtliche Prinzipien unserer Welt erkannt zu haben, sah man es rein theoretisch nur als eine Frage der Kapazität an, alles über die Zukunft zu wissen. Natürlich war jedem klar, dass es niemals einen Menschen geben würde, der alle diese Kenntnisse in sich vereint – der Dämon war ein theoretisches Konstrukt. Doch spätestens seit Einstein und Heisenberg wissen wir, dass er auch ganz und gar unmöglich wäre….
Nach der Relativitätstheorie ist es nicht nämlich nicht möglich, den ganzen Kosmos zu erfassen, da Informationen maximal mit Lichtgeschwindigkeit transportiert werden können. D.h. es bildet sich ein „Horizont“ über den der Dämon nicht hinaus blicken könnte. Er kann also nicht alle Zustände des Universums kennen und folglich auch nicht vorhersagen. Da laut Einstein die Lichtgeschwindigkeit eine absolute Grenze darstellt, zugleich aber Zeit an Geschwindigkeit gebunden ist – stellt die Lichtgeschwindigkeit also das „Ende der Zeit“ dar. Für das Licht gibt es sozusagen keine Zeit.
Es kommt aber noch schlimmer: In der Quantenphysik dagegen lassen sich keine deterministischen, genauen Voraussagen mehr treffen, es sind nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. Nach den am weitesten verbreiteten Interpretationen der Quantenmechanik, ist dies nicht durch die Unkenntnis verborgener Variablen bedingt, sondern spiegelt einen auf Quantenebene existierenden absoluten Zufall wider. Gemäß dieser, von den meisten Physikern vertretenen Ansicht ist also nicht nur der Laplacesche Dämon unmöglich (wie nach den beiden anderen Einwänden), sondern auch der Determinismus an sich falsch.
Damit sind wir bei der „Unschärferelation“, die schon den Genius Einstein gewaltig ins Grübeln brachte (denn insgeheim träumte auch er vom Laplaceschen Dämon, man ist schließlich auch nur ein Mensch). Nun könnte man sagen: was gehen mich die allerkleinsten Teilchen an? Und hat damit auch recht. Wo kämen wir hin, wenn jedes superkleine Teilchen einfach machen würde, was es will. Was würde geschehen, wenn meine Leberzelle sich plötzlich einfallen lassen würde, eine Nierenzelle zu sein oder noch schlimmer: wenn sich mein Gehirn aufgrund der Unbestimmbarkeit kleinster Teilchen in Grütze verwandelt? Wir sehen also: Determinismus ist eine äußerst wichtige Grundlage all unserer Seinserfahrung. Ohne sicher sein zu können, dass die Naturgesetze auch wirkliche verlässlich funktionieren, könnten wir keinen Fuß vor die Tür setzen. Nun – es gäbe uns nicht einmal. Es gibt uns aber… wie ist das zu verstehen?
Oder existiert er doch?
Nun ist es durchaus denkbar, dass ein solcher Dämon trotzdem existiert. Wenn auch nicht überall und stets präsent, aber bei Medien und Hellsehern taucht er ja immer wieder beobachtbar auf – jede nächtliche Vision, in der beispielsweise ein Unfall vorhergesehen wird, der dann auch tatsächlich genauso eintritt, bringt uns auf gespenstische Weise dem Laplaceschen Dämon auf die Spur. Denn wenn wir voraussetzen, dass Lichtgeschwindigkeit wirklich eine Grenze darstellt, die man nicht überschreiten kann, dann gibt es nur noch eine einzige Möglichkeit: das Denken an sich. Gedanken sind schneller als das Licht. Und hier müssen wir noch ein wenig in das Reich der Neurophysiologie eindringen und uns zunächst ein paar sehr interessante Krankheiten ansehen: Schizophrenie und Epilepsie sowie die Entstehung von Geistesblitzen. All diese Erscheinungen werden heute mit einer Schädigung oder auch stärkeren Durchblutung des Temporallappens in Verbindung gebracht.
Der Temporallappen ist der untere Teil des Großhirns und vor allem für Gedächtnisleitungen zuständig. Bei Krankheiten wie Epilepsie aber auch Schizophrenie wird entweder eine Schädigung oder eine verstärkte Tätigkeit des Temporallappens beobachtet. Gleiches gilt aber auch für Hellseher und Medien und auch für Wissenschaftler, die plötzlich die Lösung eines Problems „entdecken“. Das berühmte „Heureka – ich hab’s“ des Philosophen Archimedes, oder der Apfel, der Newton auf den Kopf fiel und seine Ideen zu den Bewegungsgesetzen auslöste, lassen sich heute mit einer starken Aktivität des Temporallappens in Verbindung bringen. Mark Jung-Beeman von der Northwestern University in Illinois betrieb Nachforschungen über die Vorgänge im menschlichen Gehirn während dieser Geistesblitze.
Einige seiner Studenten hatten Wörterprobleme zu lösen, während die Gehirnaktivität in den jeweiligen Zentren mittels Magnetresonanz- Tomographie oder Kernspintomografie untersucht wurden. Sie hatten zu drei vorgegebenen Wörtern ein viertes hinzuzufügen und daraus einen Zusammenhang zu erstellen. Der dadurch ausgelöste „Geistesblitz“ verursachte eine gesteigerte Aktivität in der rechten Gehirnhemisphäre, genauer im oberen Bereich des Gyrus temporalis superior, einer Windung an der Außenfläche des Schläfenlappens. Eine Drittelsekunde vor dem blitzartigen Einfall stellte Jung-Beeman eine hochfrequente Aktivität im Gammabereich fest, ein Zeichen kognitiver Prozesse, anderthalb Sekunden vor dem Geistesblitz hingegen eine niederfrequente Gamma-Aktivität in der hinteren rechten Hirnrinde.
Überraschend war hingegen, dass sich sehr wenig Aktivität in diesem Bereich während der methodischen, rationalen Form der Problemlösung herausstellte. Das stimmt uns nachdenklich: das rationale Denken war es also nicht, welches Newton die Gesetze des Kosmos entdecken ließen. Es war eine spontane Eingebung, so als hätte sein Verstand in diesem Augenblick die „Zeitgrenze“ durchstoßen. Gibt es also eine seltsame Brücke zwischen unserem Gehirn und der Ewigkeit. Nun, durch methodisches Denken werden wir diese Frage sicher nicht beantworten, dafür benötigen wir erneut einen dieser unerklärlichen Geistesblitze.