Über die Wahrsagerei und Hellseherei
Seit jeher haben die Menschen versucht, einen Blick in die Zukunft zu erhaschen. Meist genutzte Methoden für die Zukunftsdeutung sind das Wahrsagen und/oder Hellsehen mit oder ohne Hilfsmittel.
Sie haben in die Sterne geschaut, Knochen geworfen, Runen in Steine geritzt oder aus Tiergedärmen gelesen. Und schon vor tausenden von Jahren gab es Skeptiker, die all dieses Treiben für Humbug hielten, und solche, die fest daran glaubten.
Als nach einer dunklen Periode des Aberglaubens, dem sogenannten Mittelalter, eine neue, hellere Zeit der Aufklärung begann; als die Urväter der modernen Wissenschaft, von Kopernikus, über Galileo Galilei bis hin zu Isaac Newton den Schleier von der Schöpfung rissen und der Menschheit ein in sich schlüssiges mechanistisches Modell der Welt bescherten, da glaubten viele Geisteswissenschaftler, man müsse nur über die genügende Menge von Fakten verfügen, um den Lauf der Dinge exakt vorhersagen zu können.
Seit Einstein, Bohr und Heisenberg wissen wir, dass dem nicht so ist, die Welt scheint in ein relativistisches Chaos gestürzt, in dem sich Ursache und Wirkung an den Grenzen des Kosmos begegnen und einander aufheben. Wie kommt es also, dass unser empirisches Wissen nicht ausreicht, um Wahrsagerei und Divinationskunst ein für allemal zu einem archaischem Element unserer frühen Geschichte zu machen? Sind wir Menschen geteilt in zwei Wissensklassen – die einen, die über genügend Bildung verfügen, um Aberglauben und Wahrsagerei ins Kuriositätenkabinett verbannen, und die anderen, denen schlicht das Denkvermögen fehlt?
Ich glaube kaum, dass es so einfach ist. Der Mensch ist eine Seinsform, die Widersprüche mühelos in sich vereint. So ist es einem katholischen Pfarrer in Oberbayern ohne weiteres möglich, sich in einen modernen PKW zu setzen – Produkt eines Forschergeistes, welcher von seiner eigenen Kirche Jahrhundertelang auf den Scheiterhaufen gezerrt wurde – um damit zu einer Teufelsaustreibung zu fahren, die ihre Wurzeln in den heidnischsten aller denkbaren Riten hat. Ist dieser Pfarrer ein dummer Mensch?
Wenn er es ist, dann offenbart sich seine Dummheit nicht in diesem Widerspruch, denn der ist alltäglich. Manager, die mit kühlem Kopf folgenschwere Unternehmensentscheidungen treffen, Wissenschaftler, die an Wochentagen in Hightechlabors forschen und Sonntags in die Kirche gehen, das vielbeschworene “Lieschen Müller”, welches die meiste Zeit ihres Lebens damit verbringt, Supermarktsonderangebote sachkundig und nüchtern zu vergleichen – sie alle finden sich in der Beratung von Wahrsagern wieder, die ein scheinbar völlig unempirisches Verfahren anwenden, um Auskünfte über den Verlauf von Geschäften, Partnerschaften und ganzen Lebensläufen zu geben.
Wie ist Wahrsagen & Hellsehen möglich?
Die Frage ist relativ einfach zu beantworten: Weil Wahrsagen in einem bestimmten Rahmen tatsächlich funktioniert – für eine gewisse Zeit. Es gibt bis heute keine schlüssigen Untersuchungen über die Wirksamkeit bestimmter Divinationsmethoden. Ob Kartendeutung, Kristallkugel, Runenorakel oder Astrologie – nichts von alledem ist allein für sich stehend exakt und objektiv. Im Gegenteil, die Wahrsagerei scheint die These von der Nicht-Lösbarkeit des Universums vom Betrachter zu bestätigen. In einer verzweifelten Lebenssituation kann der Hellseher für den Ratsuchenden eine wertvolle Hilfe sein. Ob die gemachten Aussagen nun auch in aller Form zutreffen oder nicht, ist für den Moment nicht wichtig.
Erstaunlicherweise hängt es oft vom Ratsuchenden selbst ab, ob sich bei einem bestimmten Hellseher Voraussagen erfüllen oder nicht. Ein begabter Wahrsager und Lebensberater kennt in erster Linie sein Klientel. Er weiss, was Lieschen Müller für Sorgen und Probleme hat, und in den meisten Fällen ist es nicht schwer, die kommenden Ereignisse vorauszuahnen.
Für die meisten Voraussagen muss man sogar weder eine Divinationsmethode anwenden, noch Gedankenlesen können – eine gesunde Menschenkenntnis reicht meist völlig aus. Kombiniert mit den Errungenschaften der Psychologie lässt sich sehr rasch eine situative Anamnese durchführen, um daraus den Gang der Dinge zu erfassen. Aber trotzdem scheint es dann immer wieder verblüffend, wie exakt manche Kartendeutungen zutreffen. Sind hier Kräfte im Spiel, über die wir nichts oder nur wenig wissen?
Diese Frage wiederum, lässt sich vorläufig noch nicht beantworten, und vielleicht ist das auch ganz gut so. Nur eines erklärt sich recht rasch: auch die Karten, die wir benutzen, die verschiedenen Divinationsmethoden, sie alle sind Teil unserer Welt, wie wir sie sehen, und erfahren. Und bewegen sich deshalb in einem uns vertrauten Rahmen. Mit den Karten wäre es kaum möglich, das Leben einer uns vollkommen fremden Lebensform zu deuten. Und deshalb sind Divinationstechniken auch Teil unserer historischen Überlebenserfahrung. Deshalb funktionieren sie, wenn ein guter Berater sie anwendet.