Die Geschichte der Traumdeutung
Traumdeutung – Ein Begriff, der für viele mystisch und verklärt klingen mag, wie ein Artefakt aus der Welt des Übersinnlichen – und doch ist die Traumdeutung eine zutiefst konkrete Wissenschaft. Wirft man erst einmal den Namen Sigmund Freud in die Diskussion, wird jeder aufhorchen. Ja, er war es, der Vater der modernen Psychoanalyse, der diesem Rätsel, dessen Ergründung die Menschen schon seit der Zeit der alten Griechen nachspüren, auf das Podest der ‘wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit’ hob.
Doch auch nach Freud, in unserer heutigen, modernen Zeit, sind Träume noch immer etwas ganz Privates, nicht Öffentliches. Jeder von uns fühlt, dass er etwas von seiner Seele verraten würde, etwas von seinen innersten Empfindungen und geheimsten Wünschen, wenn er seine Träume preisgäbe. Schlimmer noch: man könnte ihn für verrückt halten, wenn er erzählte, was er letzte Nacht träumte; oft sind unsere nächtlichen Phantasiegebilde von höchst delikater oder skurriler Art.
Früher, vor Jahrtausenden, als sich die griechischen Philosophen erstmals mit ernsthaften Deutungsversuchen der Träume beschäftigten, gab es äußerst unterschiedliche Meinungen – der eine verwarf die Bedeutung der Träume vollständig, ja verachtete sie sogar als Schmutz und Unfug, während der andere ganze Welten der Erkenntnis darin liegen sah. Heute, da man um die Vielschichtigkeit der Träume weiß, herrscht eher das Zögern vor, denn es gibt kaum konkrete Handhaben, um sagen zu können: Dieser Traum bedeutet dies, und jener Traum jenes. Doch dies sollte Anlass genug sein, um einmal tiefer in dieses Thema hineinzublicken.
Träume sind individuell
Mitunter erscheint ein Traum, als wäre er die Wirklichkeit, manchmal ist es umgekehrt. Jeder Mensch hat seine ganz eigenen Träume, die in Zusammenhang mit seiner Persönlichkeit und seiner Vorgeschichte stehen. Das wusste schon der antike Traumdeuter Artemidoros. Obwohl der Psychoanalytiker (und Schüler Freuds) C.G. Jung später den Begriff des Kollektiven Unterbewusstseins in die Traumdeutung mit einbrachte, ist es heute unstrittig, dass Träume individuell sind.
Als ich mich einst mit diesem Thema zu beschäftigen begann, und in meiner Stadtbibliothek nach Büchern darüber suchte, fiel mir eines in die Hand, ein gefällig aufgemachtes Handbuch der Traumdeutung, dass ich interessiert aufschlug. Doch schon nach einem nur zweiseitigen Vorwort folgte nichts weiter als eine umfangreiche, alphabetisch sortierte Sammlung von Stichwörtern aus dem Bereich der Träume, und deren Deutung. Instinktiv legte ich dieses Buch sofort wieder weg. Mit meiner Vorbildung in Sachen Psychologie war mir sofort klar, dass dies der reinste Humbug war – es kann nicht sein, dass ein in einem Traum auftauchender Drache für jeden Menschen die gleiche Bedeutung hat. Für den einen Träumer mag ein Drache ein Sinnbild für eine gefährliche Person in seinem persönlichen Umfeld sein, für den anderen nichts als die Wiederholung einer Filmszene, die ihn beeindruckt und beschäftigt hat. Ein dritter Mensch, der sich im Traum auf einem Drachenrücken fliegen sieht, sehnt sich vielleicht nach einer Reise.
Was Träume verraten
Wenn aber die Möglichkeiten der Bedeutung von Träumen so vielfältig sind – wie können sie uns dann überhaupt helfen? Wie können wir ihre Botschaften verstehen, oder sie sogar nutzen, um etwas über unser Inneres zu erfahren oder die Lösung für ein Problem zu finden? Das Geheimnis liegt darin, den Traum im Zusammenhang mit dem Menschen verstehen zu wollen. Beispielsweise wird in der Heilkunde der Homöopathie häufig vor Beginn einer Behandlung eine Anamnese vorgenommen. Das ist eine ausführliche Befragung des Patienten über seine Befindlichkeiten, von körperlichen Schmerzen und seelischem Zustand bis hin zu seinen Träumen. In akuten Leidenssituationen drücken Träume häufig den Schmerz mit aus. In der Homöopathie hilft die Betrachtung der Träume dem Arzt, den Menschen besser zu verstehen, um sich besser auf sein Leiden einrichten zu können. Die Traumdeutung, in welcher die Träume eines Menschen in Mittelpunkt stehen, kann deshalb verständlicherweise nicht im Mindesten darauf verzichten, den Menschen so genau wie möglich zu betrachten – erst dann kann man damit beginnen, seine Träume verstehen zu wollen.
Die Geschichte der Traumdeutung
Heute weiß man durch die moderne Schlafforschung, dass jeder Mensch träumt, auch dann, wenn man sich später nicht mehr daran erinnern kann. In Schlaflabors hat man festgestellt, dass schnelle Bewegungen der Augen unter den geschlossenen Lidern eindeutige Hinweise auf Traumvorgänge sind. Schon der griechische Philosoph Aristotoles (384 – 322 v.Chr.) hatte diese Augenbewegungen (REM = Rapid Eye Movement) beobachtet und vermutete einen Zusammenhang mit dem Träumen. REM ist, wie man heute weiß, nur eine Begleiterscheinung des Träumens. Durch die moderne Medizin hat man herausgefunden, dass das Gehirn auch in der Nacht sehr aktiv ist – während der verschiedenen Schlafphasen in unterschiedlicher Weise. Überhaupt weiß man heute sehr viel mehr über den Aufbau des menschlichen Hirnes, welche Teile z.B. für die Motorik, die Sprache, die Sinne oder des Erinnerns zuständig sind.
In der Antike war das alles völlig unbekannt. Man hielt das Hirn für eine große, Schleim produzierende Drüse – und für den Sitz des unsterblichen Teils der Seele. Platon (428-348 v.Chr.) jedoch, der Lehrer des Aristotoles, glaubte schon damals, dass die menschlichen Triebe ein angeborener Teil dieser unsterblichen Seele wären und dass besonders im Schlaf und in den Träumen die wilde Tiernatur der Seele nach außen dränge. Er meinte, dass dann der andere, der “vernünftige” Seelenteil, der tagsüber die Herrschaft innehabe, schliefe, und das gesetzlose, innere Tier hervorbreche, um seinen Lüsten zu frönen. In allen Zeiten hat dies die Menschen beunruhigt. Fromme Kirchenväter wandten sich voller Angst an ihren Schöpfer, wenn sie nach lustvollen Träumen an ihrer eigenen, inneren Keuschheit zweifelten, und baten ihn um Vergebung für ihren unreinen Geist. Immerhin hinterließ Platon diesen armen Selbstzweiflern einen wohl gemeinten Rat: Er war der Auffassung, dass der gesunde und vernünftige Mensch in der Lage sei, erst dann zu Bett zu gehen, wenn er sich innerlich gestrafft ‘und mit schönen Gedanken gespeist’ habe, auf dass er sich nicht in seinen Träumen von Schmerz oder Lust verwirren lasse.
Traumdeutung damals und heute
Wie man sieht, haben sich die Menschen schon seit der Antike darum bemüht, das Rätsel der Träume zu entschlüsseln. Schon im Altertum wurden Bücher und Nachschlagewerke über die Traumdeutung verfasst, sogar den Beruf des Traumdeuters gab es, wie zum Beispiel die Priester im alten Ägypten. Aufgrund von archäologischen Funden können wir uns heute ansehen, was Menschen dort vor 4000 Jahren geträumt haben – zu finden im British Museum zu London, wo der Chester-Batty-Papyrus aufbewahrt wird, in dem über 200 Träume aufgezeichnet sind, bis in eine Zeit um 2000 v.Chr. zurückreichend. Man hielt die Träume für Warnungen oder Prophezeiungen der Götter. Geradezu skurril mutet an, was man über Traumbilder dachte: Ein nackter Hintern im Traum sollte bedeuten, dass die Eltern sterben, und wenn ein Kranker vom Tod träumte, sollte er wieder gesund werden.